Gertrud Pfander
Beim Tode der jungen Dichterin
Warum so früh bist Du dahingegangen
In jene Stadt, draus keine Wiederkehr,
Davor die Schleier undruchdringlich hangen?
Du lässest einen Thron der Schönheit leer
Aus schneeig blutgeädertem Gesteine.
Zart wie dein Lied und wie dein Leid so schwer.
Ich aber seh dich noch im späten Scheine
Des Herbstes sitzen auf dem Marmorthron,
Dein Auge groß gerichtet auf das meine.
Und eine dunkle Flamme fühl ich lohn
In diesem Blick, geschürt von Krankheitsqualen,
Aufleuchtend schmerzlich im Erlöschen schon.
Und Weinlaubröten wechseln mit den fahlen
Novembernebelfarben kurz und jäh,
Darüber deines Himmels Sterne strahlen.
Wie auf den Grund ich deiner Seele späh,
Seh ich Verzweiflung mit der Sehnsucht ringen,
Und keine Rettung winkt in Fern und Näh.
Da stribt dein Schrei: du lauschst dem Engelsingen,
Der Schicksalsfluch verklärt sich zum Choral,
Und wie die Saiten deiner Brust zerspringen,
Beut dir dein Lebensfürst den heiligen Gral.
* Geb. 1. Mai 1874 in Basel. † 9. Nov. 1898 in Davos.
Das von mir herausgegebene Buch: Helldunkel (Bern, 1908) enthält die Gedichte und Bekenntnisse der genialen Schweizerin.
Gesammelte Werke. Vierter Band: Buch der Kunst, München 1921, S. 76-77.